"Unterlassene Hilfeleistung" - Anmutungen und Zumutungen


Ausstellungseröffnung von Werner Neumann - Sibylle Peretti "Unterlassene Hilfeleistung" in Kunst-Raum Eisenstein (Galerie Sellner) am 24.5.92.

 

Allem Reden über Kunst haftet ein Manko an.

Der Redner wird in ein Dilemma gestürzt, im günstigen Fall von seinen Freunden, den Künstlern, im ungünstigen von der Lust an der Selbstdarstellung oder den Notwendigkeiten des Marktes, sei es der Kritik, sei es der Kunst. In meinem, günstigen Fall, stürze ich mich, mehr oder weniger wohlgemut, gern, meinen Freunden zuliebe, mehr aber noch meiner Liebe zu deren Kunst halber, in dieses Dilemma, das in seiner einfachsten Form heißt: "Je mehr Gerede, desto weniger Kunst." Eine Zumutung ist daher meine Rede und Zumutungen will ich auch tatsächlich an Sie herantragen - Zumutungen im besten Sinn des Wortes stellen vielleicht die Werke dar.

Setze ich sie der Zumutung: 'Rede über Kunst' aus, so will ich dennoch versuchen, in meiner Rede der Zumutung Kunst Platz zu schaffen, nicht im Versuch einer ultimaten Deutung und Vorgabe für Sie, sondern als Beispiel dafür, wie diese Kunst für mich Bedeutung gewinnt und welche. Ich selbst stehe also ein für diese Kunst in meiner ganz persönlichen Eigentümlichkeit. Am Schluß steht denn auch nur eins nicht in Frage, bei dieser Auslegung einer Kunst, die Fragen stellt, die Fragen erzwingt, die sich selbst und uns in Frage stellt. Nicht in Frage steht, daß diese Kunst die Möglichkeit eröffnet, einen offenen Blick für Bedeutung, für Welt, für uns selbst zu gewinnen. Die Möglichkeit steht deshalb nicht in Frage, weil diese Kunst für mich das leistet.

Immanuel Kant kennzeichnet das Sprechen über Kunst als ein subjektives Urteil mit der Anmutung auf Allgemeingültigkeit. So spreche ich denn von meiner Erfahrung mit der verstörenden und faszinierenden, der verletzenden und befreienden Kunst von Neumann - Peretti und verbinde doch damit einen theoretischen Gehalt, mute Ihnen an, jenseits aller objektivierenden Festschreibungen dem Gehalt der Werke sich zu öffnen.

Lassen Sie sich ein auf inhaltliche Irritationen, auf zugrundeliegende traumatische Erfahrungen, auf ungewohnte - ich sage bewußt nicht Ästhetisierungen, sondern Versinnlichungen. Wenn Sie dies tun, wenn Sie verletzbar werden, sich sensibilisieren lassen für die Verletzbarkeit des Menschen in den figürlichen Arbeiten von Sibylle Peretti, empfindsam für den Sog der Farben in den Klage- und Zornbildern Werner Neumanns, aufmerksam auf das Zusammenspiel der Symbol­zeichen von Tod und Geschlecht, dann machen Sie die Erfahrung, die Menschen immer mit Kunst gemacht haben, die Erfahrung, daß eine verletzliche, verletzte Wahrheit zum Ausdruck ge­langt, eine seltsame Wahrheit, eine Wahrheit des Materials, der Sinne und vor allem der Menschen, die diese Kunst schaffen, eine Wahrheit, die selbst da noch wahr spricht, wo die unmittelbare These, die sie bekundet, falsch sein mag.

Sollte ich die Perspektive, die sich für mich aus der Mischung von Vorgabe durch die Objekte der Ausstellung und idiosynkratischer Vorliebe, also meiner eigentümlichen, persönlichen Begegnung mit dem Werk von Peretti - Neumann, ergibt, sollte ich diese subjek­tiv-objektive Perspektive doch allgemein kenn­zeichnen, dann würde ich - mag sein zu Ihrer Verwunderung, mehr noch sicher zur Verwunderung meines Freundes, des Künstlers Wer­ner Neumann - diese Per­spektive eine christliche nennen.

Ich brauche dafür keinen Aufhänger, das ist mit Händen zu greifen, das sticht in die Augen, wer Ohren hat zu hören, der kann es sogar hören und man muß schon alle seine Sinne ver­schließen, um das nicht unterschwellig zu spüren. Zu Christen würde ich sagen, Du kannst Dich dieser christlichen Botschaft nur entziehen, indem Du Dein Herz verschließt, wenn Du - fälschlich - vermeinst, den eige­nen christlichen Anspruch ableisten zu können durch Kirchgang und einer Mark für den Klingelbeutel.

Falls Sie doch einen Aufhänger bevorzugen, anempfehle ich Ihnen das große, den geistigen Ort dieser Ausstellung unmittelbar thematisierende Bild: "Du sollst nicht töten". Sie werden sich erinnern, es ist dies das 5. der Zehn Gebote, auf die sich die Chri­sten als Dekalog in besonderem Maße berufen.

Wenn Werner Neumann sich auf dieses Gebot beruft und stützt, dann liegt in dieser Berufung bereits die wütende, leidende, anklagende Frage: Und was macht ihr Berufenen der Kirche, die ihr euch selbst, selbstherrlich und selbstgewiß als berufen versteht, was macht ihr Berufenen aus dem Gebot?

Die christliche Perspektive Werner Neumanns ist sicher keine, die zu den weißgelben Kirchenfahnen ruft, eher ruft sie zur Desertion einer Institution, die Seele und Gebote selbst desertiert, im Wortsinn von deserere, Seele und Welt wüst und leer werden läßt, trotz allem und in allem Gepränge.

Wir wollen und können dahingestellt sein lassen, ob jede Anklage, jeder wütende Schrei, der seinen dramatischen Ausdruck in aggressiv-denunziatorischen Symbolen wie Hakenkreuz und Mitra sucht, seine Rechfertigung in einer diskursiven, reflektierten These fin­den könnte. Seine Rechtfertigung als energisches Wachrütteln, als Aufrütteln aus dem Einlullen billiger Sprüche hat er allemal. Seine Wahrheit im vorhin benannten Sinn ebenso.

Damit wir uns nicht falsch verstehen. Ich bin weit davon entfernt, Quasientschuldigungen zu formulieren. Die Notwendigkeit der Un­ausgewogenheit versuche ich Ihnen zu vermitteln.

Der erstickte Schrei von Opfern artikuliert sich in diesen Bildern - nehmen Sie beispielsweise jenes Bild eines Bootes auf einem toten Meer von Blut. Der erstickte Schrei von Opfern, denen die Hilfe nicht geleistet wird, die eigentlich uns selbst erst zur Menschlichkeit bringt, prägt den Gestus auch der übrigen Bilder. Deshalb ersteht in den Bildern eine Welt der Toten und des Todes als Menetekel, als Menetekel, falls wir nicht zu jener Hilfe fin­den, die letzt­lich Selbstrettung bedeutet, die Rettung einer menschlichen Welt.

Ein Wort nur zum ästhetischen Phänomen: Achten Sie auf die rote Farbe, - vielleicht erleben Sie eine ähnliche Verwunderung wie ich. In der Erinnerung an die Bilder war ich nämlich zunächst nahe daran in der Beschreibung fehlzugreifen und von einem "Schrei in der Farbe Rot", durchaus mit dem gesuchten Anklang von `schreiender Farbe` zu sprechen, bis mir bewußt wurde, daß ein Ver­stummen zum Ausdruck ge­langt, daß - was ich natürlich immer schon sah - die rote Farbe ins Schwarz verrinnt, wie geronnenes Blut. Die Farben in den Bildern von W.N. gewinnen einen Eigen- und Ausdruckswert, eine Richtigkeit, wie sie von vielen allzu häufig nur postuliert wird, aber nicht auf die Leinwand gebracht. Hier erhält Farbe einen Wert wie ihn die besten expressionistischen Gedichte als Wortausdruckswert erreichen.

Vertrauen Sie ihren Sinnen, wollte ich mit dieser Anmerkung zu ästhetischer Erfahrung sagen, vertrauen Sie den Sinnen mehr als den aufgewühlten Gedanken. ....

Denn keineswegs ist dies Agitationskunst - das Anliegen wird in extremer Steigerung der Besondertheit ins Allgemeine gehoben. Wer­ner Neumann berührt in seinen Klage- und Zornbildern den Menschen, be­rührt, was uns alle angeht.

Benennt und bezeichnet "Du sollst nicht töten" gleichsam programmatisch den geistigen Ort der Ausstellung, so gipfelt die Ausstel­lung sowohl der Gewichtigkeit wie der künstlerischen Inszenierung nach in der bereits in Krakau und Köln gezeigten, hier neu einge­richteten, beeindruckenden, großen Installation: `Unterlassene Hilfeleistung`, die der Ausstel­lung den Namen vorgibt.

Dieser Gemeinschaftsarbeit gelingt das seltene Kunststück, das Er­gänzungsverhältnis der beiden Künstler tatsächlich fruchtbar zu machen in einer Vereinigung von Engagement und Distanz, von unmittelbarster Sinnlichkeit und reflektiertem Konzept und, wollte ich hoch greifen, so würde ich sagen von Immanenz und Transzendenz, Diesseits und Jenseits. Ich glaube nicht, daß es besonders frucht­bar wäre, die einzelnen Momente dieser Ganzheit nun wieder je ei­ner Person zuzuordnen und vielleicht gar am Schluß die Gegenüberstellung mit männlich-weiblich zu krönen. Das schiene mir in der Tat falsch.

Doch zum Ergänzungsverhältnis der beiden Künstler in der konkreten Ausstellungssituation, die ja diese Gemeinsamkeit der Haupt-Installation in Abschwächung nochmals spiegelt, möchte ich doch ein Wort sagen.

Die Grundbefindlichkeit des Menschen in der individuellen Konkretheit archaischer Ängste und in der unmittelbaren, brutalen Faktizität, wie Sibylle Peretti sie thematisiert, wird von Werner Neumann aufgegriffen und im konkreten gesellschaftlichen Raum verortet. Der von Sibylle mit unerhörter Sensibilität wahrgenommene, für gewöhnlich ausgeblendete Raum der negativen Seiten, der Raum der schlichten Realität von Schmutz, Deformation, Qual und Ausgesetztheit des Lebens und im Leben wird so konkret befragt nach der Differenz zwischen solcher menschlicher Grundbefindlichkeit und menschlich verschulde­ter Mehrung des Leids. Der Schrecken und das Schreckliche des To­des und des Verfalls, die Unvermeidbarkeit des Leids vielleicht aber auch der Horizont von Erlösung sind Anthropina, unausweichlich mit dem Menschlichen verbundene Wesenszüge, und doch recht­fertigt dies nicht im Geringsten das von Menschen und Institutio­nen über andere Menschen gebrachte Leid.

 Die Dimension der sozialen und politi­schen Betroffenheit als Agi­tation gegen Unmenschlichkeit der Institutionen, die Sibylle im Ausloten von wesenhafter Aus­gesetztheit des Menschen auf der elementarsten Ebene eher ausblendet, kommt so in anderer Form wieder herein, wird gewonnen, neu akzentuiert und topikalisiert durch W. Neumann. Meinem Gefühl nach wird andererseits Werner Neumann durch Sibylle Peretti vom Blick auf sozialpolitische Gegebenheiten und bedenkliche Auswüchse und Deformationen sozialer und politi­scher Institutionen etwas abgelenkt und hingelenkt zu existentiel­len Grundmomenten in deren tiefer Allgemeingültigkeit.

Sibylle Peretti wurde kürzlich in einer amerikanischen Zeitschrift mit Leon Golub, einem der bekanntesten amerikanischen, sozialkri­tischen Maler verglichen. Dieser Vergleich hat in erstaunlicher Weise Recht, obwohl er meinem Gefühl nach in geradezu verblüffen­der Weise danebengreift. In der Problematik und Konkretisierung gesellschaftlicher Kritik entspricht Leon Golub in vielem eher Werner Neumann, allerdings ohne dessen, vielleicht auf die befruchtende Zusammenarbeit mit Sibylle Peretti zurückzuführende Tiefendimension. Der Vergleich hat deshalb in erstaunlicher Weise Recht, weil er am ehesten auf den Kontext einer Ausstellung wie dieser pas­sen würde, wobei ich durchaus meine, daß, so ehrenvoll der Ver­gleich mit Golub sein mag, eher Golubs Werke eine Aufwertung erfahren. 

Wollte ich für Sie den Assoziationsraum für Perettis Glas- und Bildwelten umreißen, ich würde an Becketts Endzeitgestalten in Endspiel erinnern an die Dunkelräume der Seele in ei­ner kafkaesken klaustrophoben Welt, oder an die verzerrten Chiffren leidender Menschheit in Bacons Tafelbildern.

Immer findet sich das Aufrütteln aus dem Einlullen als der gemein­same Nenner, es benennt auch die Gemeinsam­keit der beiden hier in Rede stehenden Künstler und beläßt ihnen doch die je ganz andere, wahrlich eigene Weise.

Sibylle Perettis nackte Chiffren leidender Menschheit, die ge­krümmten, skelettierten, durchbohrten und verbrannten Leiber finden ihre Apotheose in der großen Figur der Installation in foetaler, letaler Haltung, Geburt und Tod verbindend.

Aber ich will nicht die große Figur auslegen, als letzten Hinweis will ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Arbeit lenken, die mich so fasziniert, daß ich fast davor zurückschrecke, sie zu besprechen, da man ihr unbedingt die Widersprüchlichkeit erhalten muß.

In der Glasinstallation `Haltungen` kreuzt sich das apotropäische, das abwehrende Moment, das im Darstellen des Ungeheuren ebendies Ungeheure zu bannen sucht, mit dem erschreckenden Faszinosum des gebannten Blicks auf die Wahrheit einer in die Knie gezwungenen, gefessel­ten, in Reih und Glied ausgerichteten Herde Mensch.

Dieses Meisterwerk, das einen Assoziationsraum öffnet von Stall und Vieh­haltung, bis zu Gebet und Opfer, bringt in unerklärlicher Weise dennoch zugleich eine Dimension von Erlösung ins Spiel.

Die Glasfigur mit der die Reihe, wenn wir in abendländischer Schrift­folge ordnen, beginnt, stellt eigentlich den Letztzustand dar. Die Drähte, die nach außen gehen, die die gebeugten Leiber verdrahten, fesseln und dirigieren zugleich, sie fehlen bei der ersten Figur, die eigentlich die letzte ist, ebenso wie das Glas im Rüc­ken fehlt, der hier, aufgebrochen, sich als gläserne Wunde darbietet.

Den Werkstoff Glas führt Sibylle Peretti seit geraumer Zeit in für mich, aber auch für zahlreiche Fachleute, erstaunliche Ausdrucksdimensionen. Darauf einzugehen ist hier nicht der Ort.

Achten Sie einfach genau wie bei dem Zusammenspiel der Farben und Symbole in den Bildern von Werner Neumann auf die Wertigkeit der Materialien, die Fügung von rostigem Draht und Kohle mit lichter Sichtigkeit von Glas, von Schmelze mit hartem Bruch, achten Sie auf den gebrannten Ton und seine Konnotationen von verbrannter Erde und verbrannter Haut und - schmerzhaft und verwunderlich für mich - auch von glasierten Früchten.

Die Brüchigkeit und Gefährdetheit des Menschen bewußt machen - das Stören der Ordnungen und das Brechen von Hierarchien denkbar ma­chen - den Sturz von Befestigungen der Herrschaft im Außen und von Verfestigungen der Seele im Innern erfahrbar machen, heißt: Unter­lassene Hilfeleistung einfordern - in dieser Forderung wird Erste Hilfe geleistet durch die Ausstellung mit dem in dieser Hinsicht paradoxalen Titel: Unterlassene Hilfeleistung.

Keineswegs möchte ich sagen: geben Sie der Kunst eine Chance oder gar: geben sie den Künstlern eine Chance. Ergreifen Sie vielmehr die Chance eine Erfahrung zu machen: Geben sie sich die Chance, Be­deutung nicht zu entnehmen als Vorfindbares, sondern Bedeutung zu gewinnen, für sich - Sie für sich selbst. Die Bedeutung in der Welt gewinnen die Kunstwerke dann, das ist jenes die Kunsttheore­tiker seit Platon verwirrende Wunder der Kunst, die Bedeutung in der Welt gewinnen die Kunstwerke dann scheinbar von selbst.  

Wie Sie, weiß auch ich nicht genau, was Ihnen und mir bevorsteht in der Performance von Tom Toys. In den verschlungenen, verwirren­den, übersprudelnden Wortkaskaden, die er mir als eine Art ver­bindlich - unverbindlicher Information zur Verfügung gestellt hat, blitzt in einem Moment im Paradox Sinn auf, der im nächsten in nochmals übersteigerter Metaparadoxie aufgehoben wird. Doch eines glaube ich sagen zu können: Wer die fiebrigen Unruhelinien seismo­graphischer Erschütterung und Betroffenheit nicht durchspürt in den benutzten Versatzstücken von Sprache, die in einer Art Vernut­zungsorgie - so mein Eindruck - zu einem neuen Klang geführt wer­den soll, wer gar nur Clownerie zu entdecken vermeint, der ver­fehlt eine wesentliche Dimension, dem entgeht die Transforma­tion in der Performation, auf die ich mit Ihnen gespannt bin.

Kontrollierter Absturz - d.h. zwischen Chaos und Ordnung ein gefährdeter Platz, ein gefährdeter Platz des Zwischen für den Menschen.

 

POST FESTUM 24.5.92
Zur Performance "KONTROLLIERTER ABSTURZ"
von Tom de Toys

Als ich in meiner Rede zur Ausstellungseröffnung auf Tom de Toys zu sprechen kam, sagte ich wenig mehr als: "Ich weiß nicht". Das war wahr gesprochen und tatsächlich weiß ich auch jetzt nicht, ob ihm je zuvor eine Performance gelang, weiß auch jetzt nicht, ob ihm je eine weitere gelingen wird. Sicher weiß ich: diese Performance im Kunstraum Eisenstein ist gelungen, merkbar gelungen.

Mit Performances habe ich oft Schwierigkeiten, vielleicht, dass ich nicht sensibel genug bin, vielleicht, dass ich überempfindlich bin. Mal sind sie mir zu prätentiös, mal zu wenig bedeutungsschwanger. Und dann leide ich an mir und der Performance zugleich, bin mal höflich, mal verärgert, empfinde mich gleichzeitig als hochtrabend und ignorant und doch auch wieder als nicht ernstgenommen und wirklich besser wissend.

In diese unerquickliche Situation brachte mich auch sofort Tom de Toys mit dem ersten Ruf. Als sich dann meine peinliche Beklemmung im Verlauf immer mehr verflüchtigte, wurde mir auch bewusst, wie wenig Chancen ich eigentlich einer Geschichte gab, wenn ich schon beim ersten Ruf Prätentiosität zu spüren vermeine. So bin ich dem geschickten Künstler nicht zuletzt dafür dankbar, dass er mich von der Fixierung eines generalisierten Vorurteils ein wenig freistellte, mir den Freiraum öffnete für ein einfaches Genießen einer Performance.

Tom de Toys' Schrei von und nach der Brücke, der Schrei von der Brücke aus nach Überbrückung zu weiß Gott welchen Ufern, hat keinen eindeutigen Gehalt, er gewinnt im Verlauf eine vielschichtige Sinndimension im Zwischen von Kunst und Leben, von Zeichen und Gegenstand, von Sein und Schein.

Blutig, durch rotgetränkte Verbände gefesselt, stellt er ein Opfer dar, so einsichtig, dass hilfreiche Passanten die Polizei rufen, nicht um ungehöriger Kunst zu wehren, sondern um außerhalb des Kunstraums Hilfe zu leisten.

Scheint doch der Unglückliche AUF die Brücke gelangen zu wollen, um zum realen – für die Zuschauer zum imaginierten – Ufer zu gelangen. Doch der gefesselte Prometheus, der mit einem gigantischen Knochen den Stein in dumpfen Schlägen, deren Hall das Brückengewölbe zu der Gemeinde weiterträgt, zu erweichen sucht, rutscht ab bis zum Ufer des Bachs, ein tödlich verletzter Adonis. Eine kunstverständige Dame fühlte sich an Adonis erinnert, und dieses Bild trifft sicher assoziativ am ehesten zu, in der Schönheit und Feier des Leibes und des Lebens, wie in der Verwundung, an welcher der klassische Adonis stirbt.

Dem sterbenden Adonis gleicht Tom de Toys dort am Ufer, mehr Wunde denn schöner Leib. Doch wir erfahren die Umkehrung der Geschichte. Denn am Ufer richtet sich der menschgewordene Torso aus Sibylle Perettis Universum der Schmerz- und Leidensfiguren, der todwunde Adonis auf, streift die Fesselungen ab, steigt – nun schon näher am lebenden Adonis – ins Wasser zwischen Verkündigung Johannes und Bespiegelung des Narziss schwankend und begrünt die Steine wie Dionysos, wie Dionysos aus blutigem Opfer –in diesem Falle Rinderherz – Leben schaffend. Nun ich will mich nicht über alle Grenzen forttragen lassen, recte also: Leben schaffen symbolisierend, lebend und schaffend.

Die grüne Farbe, die er auf sein Herz – mittels Rinderherz? – im Rhythmus des Herzschlags aufbringt, gewinnt Leben, atmet durch den Körper. Oder bringen die Schläge an die Brust erst sein Herz in den richtigen Rhythmus? In gewisser Weise belebt er in diesem Gestus erfolgreich den Stein, in der symbolischen Handlung und indem er mit symbolischen Zeichen des Lebens den Stein bemalt.

Bei soviel leicht exerzierter Bedeutungsschwere wird dann auch ein Gag wieder leicht möglich ohne – weder Zuschauer noch Bedeutung – zu erschlagen.

Der verwunderte Ruf: "Wo sind die Fische?" – ist sicher ein Gag, ein freier Scherz in einem freien Spiel. Doch er ist auch eine Frage, zwischen Mensch und Natur, die sich uns im postindustriellen Zeitalter bei zahlreichen Gewässern, gebe Gott nicht in Bayerisch Eisenstein, bedeutungsschwer aufdrängt. Die Grenze zwischen bloßem Gag und vertrackter Bedeutung verwischt.

Die Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen Diesseits und Jenseits überbrücken wollen, die unsichtbare Grenze zwischen Leib und Leiblichkeit und ZEICHEN für Leib und Leiblichkeit ausloten, das schien mir der Dreh- und Angelpunkt der Performance.

Schmerz und Lust, Blut und Farbe, Spiel und Ernst, reiner Gag und Anflug von Bedeutung stehen in wechselseitiger Verweisungsrelation.

Die flockige Schlussreplik, die alle Bedeutungsschwere und Symbolbeladenheit in heiteres Nichts auflöste: "Es gibt keine Brücke", brachte für mich das Ganze auf den richtigen Nenner. Nicht weil sie bekundet: es ist alles nichts, sondern weil sie die Grenze selbst in den Raum des Lebens, in den Raum des Seins legt. Wir bewegen uns immer schon im Sprachspiel, wir stehen immer schon im Leben, wir sind immer schon in der Geschichte -, woraus folgt, suche nicht nach der Brücke zur Bedeutung, schaue nicht aufs Jenseits, dann findest Du im Leben die Kunst, in der Beliebigkeit die Bedeutung, im Diesseits das Jenseitige.

Sicher spielte alles mit in dieser Performance, das Wasser des Bachs, der wunderbare Weg den Bach entlang, der ja auch ohne Performance ereignishaft ist, die Sonne und auch – etwelche wirklich Interessierte, Offene für die Bilder zwischen Körper und Zeichen, Natur und Kunst, Symbol und Leben.

Ja, sogar die Polizei. Die Polizisten, bodenständig bayerisch zu Hilfe geeilt und kunstverständig genug, die unsichtbare Grenze Kunst zu erkennen und zu respektieren, sahen ihr Metier nicht berührt, und ließen dem Spektakel seinen Lauf.

Ich weiß nicht, ob Tom de Toys eine weitere Performance so glücken kann, sicher kann er größeren Erfolg erzielen. Gerade dann aber mag es vielleicht gut tun zu wissen, einmal gelang der Drahtseilakt tatsächlich, einmal der Tanz auf der wirklich-unwirklichen Grenze zwischen Leben und Kunst. Und so bedauerlich es ist, dass keine angemessene Dokumentation von dieser Performance existiert, vielleicht ist die angemessenste Weise der Bewahrung gerade dieses Loslassen vom Haben in der Konservierung, das Freigeben in das, was es gewesen ist, ein geglückter Moment.

("POST FESTUM" von Josef Rauscher erschien erstmals 1993 in der Kölner G&GN-Publikation von Tom Toys: "Geheimes Wartungsbuch Ohne Ende. Für Eine Welt Ohne Größenwahn")

 

Unterlassene_Hilfeleistung als pdf-Datei

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